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tagesschwingen
vor dem frühstück sollst du gehen,
der tag wird gut, du wirst schon sehen.
nimm träume mit,
sie tragen dich,
sie wissen alles,
fragen nicht.
bist du bereit,
lass sie verklingen
und widme dich den tagesdingen.
La Madonna
Im April.1928
Ich muß die Zeit nutzen, jetzt, wo sie mir nach dem Mittagessen das Geschirr aus dem Zimmer
geräumt haben, ich könnte lange genug Ruhe haben, wenn ich schnell schreibe und keine Pausen
mache, auf daß ich weiterkomme mit der Geschichte. Ich muß mich immer bemühen, ausführlich zu
schreiben, weil wenn ich es schaffe, fertigzuwerden, bevor sie kommen und mir das Manuskript wieder
wegnehmen, dann kann ich es vielleicht hinausbringen, irgendwie.
Komisch, daß sie mir immer wieder neue Blätter geben.
Das Blatt ist noch fast weiß, der Tisch ist leer, kein ekelhaftes Papiergeschirr mit Löffel, das sie mir
servieren, in meiner kahlen Zelle (wahrscheinlich haben sie Angst, daß ich einen echten Teller
zerschlagen könnte und mit einer Scherbe davon oder einer Gabel einem von ihnen die Kehle
durchkratze. Am besten diesem greulichen Axel, aber ich schweife ab).
Die Wahrheit ist oft unerträglich. Oft genug. Man erhofft sich etwas, oder man verliebt sich, es mag
einem etwas versprochen werden, und wenn man dann die Wahrheit erfährt...: Desillusion. Die Illusion,
Täuschung verschwindet, plötzlich grinst einem die Wahrheit ins Gesicht, die unverrückbare
Wirklichkeit. Diese Worte, ja die Philosophen streiten sich schon seit Jahrhunderten darüber, all diese
Worte sind leer, sie sind Schein und Trug, genau wie die Illusion, die Hoffnung oder der Wunsch selbst.
Ich habe erfahren, wie wirklich die Wirklichkeit ist. Ich weiß, wie sie beschaffen ist, und woraus sie
gemacht wird. Mein Freund hat recht. Er, der die Ursache gelegt hat für mein Interesse, er, über den
ich die schicksalvolle Begegnung mit Elsa erlebt habe, er, den ich immer für verrückt und fanatisch
gehalten habe, mein Freund Heisenberg.
Wenn ich es schaffe, das Manuskript hinauszulotsen, muß ich es ihm zukommen lassen. Es wird
ihm nichts bringen, in wissenschaftlicher Hinsicht, aber er wird mir vielleicht glauben, und er wird im
Kampf mit den Alten seines Faches bestärkt werden, vielleicht glauben sie ihm dann seine Geschichte.
Ja. Geschichte. Darum geht es. Darum, daß die gesamte Geschichte der Menschheit und der ganzen
Welt, ja, das Universum selbst nichts mehr ist als ein himmelsschreiender Irrtum. Eigentlich nicht
einmal ein Irrtum. Nur eine fade Tradition, nicht über alles nachzudenken, sondern nur über einen
kleinen Teil, nur über ein aussagenloses Stück, das sich ins große Puzzle einfügen läßt – wodurch man
dann die Perspektive für die Wirklichkeit verliert. Nichts, was die Menschen glauben, besser: glauben zu
wissen, stimmt. Oder, nein: was sie glauben stimmt! Das ist es. Aber sie glauben es eben bloß und es
stimmt eben bloß für sie und die Wahrheit ist ganz anders.
Es ist Zeit, zu erzählen zu beginnen.
Ich habe Werner Heisenberg im Februar 1927 in Kopenhagen kennengelernt. Nämlich über meinen
Kollegen Lars, einen Musikstudenten, mit dem ich oft im „Behringer“ gesessen bin, einer kleinen
Kneipe am nördlichen Kai. Ich schrieb damals an meiner Dissertation über Raffael. Im Laufe meiner
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Ausbildung zum Kunsthistoriker hat mich der Renaissancemaler gefesselt. Er konnte die Nüchternheit
mit Ausdruck, die Umwelt mit Spiritualität und die Religion mit Leben erfüllen. Objekt meiner
Doktorarbeit war die Sixtinische Madonna. Wie um die meisten großen Meisterwerke, nehmen wir die
Mona Lisa, die Kathedrale Notre-Dame, oder Michelangelos David, so ranken sich die Legenden auch
um die „Madonna auf Wolken mit den Heiligen Sixtus und Barbara“ des Raffaelo Santi von 1513. Nach
Vasari trage sie das Antlitz der Bäckerstochter Margherita Luti, die Raffael mit aller Leidenschaft eines
fanatischen Künstlers geliebt hatte. Es stimmt nicht. Sie hat ganz anders ausgesehen.
Aber ich schweife schon wieder ab. Die Madonna wird uns bald genug wieder begegnen. Lars und
ich saßen also im „Behringer“ und unterhielten uns über dieses und jenes, als ein sympathischer junger
Mann zu uns kam, den Lars überschwenglich begrü.te und den er mir als den genialen, wenn auch ein
wenig spinnenden Physikstudenten Werner Heisenberg vorstellte. Der Abend wurde lang. Wir
sprachen über Professoren und Prüfungen, später über Tanzlokale, Bier und Mädchen.
Danach traf ich Werner des öfteren abends. Schicksalshaft wurde das alles, als wir beide eines Tages
unser gesamtes Geld zusammengekratzt hatten, um unsere jeweiligen Angebeteten ins Kino einzuladen.
Meine war Doreen Anders, die Schwester eines meiner Studienkollegen, seine war Elsa Bohr, die
Nichte irgendeines seiner Professoren. Und nachdem wir uns den Film mit Buster Keaton angesehen
hatten, der uns zum Lachen gebracht hatte – dabei spürte ich manchmal Berührungen von Elsa, das
eine oder andere Mal beugte sie sich zu mir her und ich konnte in ihre (vom Lachen?) glänzenden
dunklen Augen blicken... (wobei ich ein schlechtes Gewissen bekam, allen drei gegenüber, denn schon
vom Anbruch des Abends an, als ich Elsa kennengelernt hatte, war ich von ihr viel mehr fasziniert
gewesen als von meiner Doreen) – danach also gingen wir tanzen. Und wie es das Schicksal wollte,
natürlich mußte ich auch mit Elsa tanzen.
„Und du bist gar nicht eifersüchtig?“, fragte sie mich beim Foxtrot.
„Ich? Warum?“ Meine Augen klebten an den ihren und ich konnte nicht anders als lächeln.
„Naja, fällt dir nicht auf, daß sich Werner da an dein Mädchen heranmacht?“
Ich mußte lachen. Es ist mir natürlich aufgefallen, aber ich habe mir nichts dabei gedacht, als daß ich
froh bin, daß sich die beiden verstehen, denn dann kann ich Elsa länger anschauen...
„Doch. Gottseidank!“
Sie lachte. Ach, damals ist ihr wohl ein Fels vom Herz gefallen. Sie lachte richtig befreit. Wir tanzten
zum Vorhang der Bühne und nur die Jazzmusiker sahen, wie ich sie kü.te.
Wenige Tage später saß ich wieder mit Lars und Werner im selben „Behringer“ und wir unterhielten
uns wieder beim Bier über selbiges, Tanzlokale und Mädchen.
„Sie ist wirklich eine hübsche kleine Maus, dein neues Sternchen!“, grinste mich Lars an. Ich blickte
hilfesuchend zu Werner, der bloß die Stirn runzelte.
„Nein, nein, er hat nichts erzählt, aber in deinem Liebestaumel hast du wohl vergessen, daß ich dir
selbst gesagt habe, du solltest tanzen gehen – mit Doreen übrigens – weil ich am selben Abend am
Saxophon aufgetreten bin!“
Nun, es war also heraus. Ich mußte lachen, aber Werner schmunzelte bloß ein wenig traurig.
Da wir mit Mädchen begonnen hatten, sprachen wir später über die Professoren und die Studien.
Lars hatte mir erzählt, daß Werner eine Theorie von Weltklasse formuliert hatte, aber daß sie verrückt
sei, weil demnach die Welt nur wahrscheinlich wirklich da sei, vielleicht aber auch nicht.
Werner schmunzelte wieder. Ich bat ihn, mir das zu erklären.
„Nun, so schlimm ist sie auch wieder nicht. Aber ich habe voriges Jahr Urlaub auf Helgoland
gemacht, weil ich verdammt krank gewesen bin. Da habe ich Zeit zum Nachdenken gehabt und habe
das auch getan. Und ich bin darauf gekommen, den Satz von der Energieerhaltung in eine
mathematische Matrix zu fassen und mit dem Planckschen Wirkungsquantum in Verbindung zu
bringen – die Details erspare ich dir, aber, nun, es sieht so aus, als ob das das Elektron, auf das ich mich
bloß beziehen kann, nicht hundertprozentig lokalisierbar ist. Es ist nicht so ein kleines Kügelchen, wie
du dir das vorstellst, sondern eigentlich eine Art Wolke von hoher Wahrscheinlichkeit, daß es dort sein
könnte.“
„Ist es also dort, oder nicht?“
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„Da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Aber ich glaube nicht.“
Wir sprachen weiter, verloren uns in den Details und in wilden Spekulationen, die entstehen, läßt
man einen Musiker und einen Kunstwissenschaftler auf die Physik los. Mit der Zahl der Biere wuchs
der Wahnwitz und Werner rückte immer mehr heraus. Daß er etwa glaube, es aber noch nicht beweisen
könne, daß eigentlich das Vakuum der Grundzustand der Welt wäre, und daß es darin Schwankungen
gäbe, die dann solche Punkte erhöhter Wahrscheinlichkeit bildeten.
„Du findest also,“ – ich klopfte auf den Tisch – „daß der da gar nicht da ist, sondern nur so viele
Punkte erhöhter Wahrscheinlichkeit für die Existenz von Holzatomen“ – ich landete einen Lacher –
„auf einem Haufen hier sind, daß da ziemlich wahrscheinlich, aber nicht wirklich, ein Tisch steht?“
„Ja.“
Ich war einigermaßen verblüfft.
„Das würde heißen, daß die ganze Welt eigentlich gar nicht existiert, daß sie nur eine bestimmte
Möglichkeit des Zufalls darstellt...“
„Das habe ich nicht gesagt. Aber so könnte man es auch sehen. Beispielsweise könnte ein
Quantensprung stattfinden, also es könnte sich nicht bloß der Zustand eines einzelnen Elektrons
ändern, wie das dauernd passiert, sondern gleichzeitig der Zustand sämtlicher Teilchen des Tisches,
sodaß im Endeffekt plötzlich ein lebendiges Wildschwein zwischen uns grunzen würde.“ Das war sein
Lacher. „Aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist dermaßen gering, daß ich nicht glaube, daß es heute
abend noch geschehen wird...“
Der Rest des Abends versandete in Wildschweinimitationen und sonstigem Nonsens. Am Ende, als
wir uns verabschiedeten, bat ich Werner, Elsa doch bitte auszurichten, daß ich sie wiedersehen möchte,
am besten gleich diesen Freitag. Er wurde traurig. Jetzt wirklich.
„Nun, weißt du, ich wollte es dir ja nicht sagen müssen, aber Bohr ist nach England berufen
worden. Er ist Elsas Vormund und sie wird ihn begleiten. Sie gehen morgen früh an Bord.“
„Was? Für wie lange?“
„Ich weiß es nicht.“
Ich habe sie nicht mehr gesehen. Wie hätte ich sollen? Die Liebe meines Lebens, diese so
wunderschöne Frau, das Mädchen meiner Träume, so lange würde ich warten müssen, nie könnte ich
nach England folgen, ich würde auf sie warten müssen...
Damals bin ich mit Tränen in den Augen in mein Zimmer getaumelt, ich bin beim Licht meiner
Kerze am Tisch gesessen, konnte nichts tun außer dazusitzen und zu trauern, ich nahm den Bleistift zur
Hand und begann herumzukritzeln, Frauenköpfe, im Profil, Frontalansicht, Schultern, Elsas Schultern,
Elsas Hals, Elsas Nase, ihren Mund, den ich nur einmal habe küssen dürfen, ihre Augen, in denen ich
die Ferne von England erahnen konnte, ihr dunkles Haar, ihre Wangen; auf jedem Blatt Papier, über
meine Notizen. Eine Elsa in wallenden Gewändern stand am Rand des Zettels mit einer Beschreibung
der Raffaelitischen Madonna, über meinen Skizzen, ich zeichnete völlig gedankenleer ihre Züge über
die der Madonna...
Ich höre sie kommen. Sie kommen heute früher. Ich muß mich zusammenreißen, ich hätte
schreiben sollen, jetzt, anstatt Elsas Gesicht unter meine Zeilen zu zeichnen und die Tränen vom Blatt
zu wischen...
...sie sind vorbei. In der Nachbarzelle höre ich Bertram schreien. Sie fesseln ihn wahrscheinlich
wieder und bringen ihn ins Labor. Bertram erzählte mir neulich, sie würden Versuche mit ihm machen,
sie würden ausprobieren, wie viel ein Mensch aushalte, wenn man ihn foltere. Die Ärzte dagegen haben
mir erzählt, daß er unter Verfolgungswahn leide, und deshalb eine Schockbehandlung bekäme, mit
kaltem Wasser und elektrischem Strom. Ich glaube Bertram. Sie haben ihn gerade weggebracht, aber ich
höre wieder Schritte, verdammt, meine Tür, si
Genau so weit bin ich letztes Mal gekommen. Ich habe das alles jetzt wieder rekonstruiert. Diesmal
werde ich aber sicherlich fertig werden, denn ich habe in den letzten Tagen mit dem Stiel meines
Löffels eine Holzplatte, auf der Unterseite, hinten, meines sperrverleimten Tisches gelockert, Stunden
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hat das gedauert, aber da kann ich die Blätter hineinstecken, wenn sie kommen, und sie werden sie
nicht finden!
Mein Problem ist, daß ich seit wenigen Stunden aber wieder ihre Präsenz spüre; wenn ich die Augen
schließe, sehe ich wieder die Madonna, sehe ich ihr Gesicht im Nebel, höre ich ihre Stimme, jetzt
wieder, sie sagt: „Komm mit mir...!“ Nein! Sie kann nicht sprechen! Sie ist ein Gemälde! Sie ist weit weg
von mir, hängt in Florenz, vier Quadratmeter Leinwand mit Farbe darauf. Nichts mehr.
Es geht. Noch kann ich meinen Wahnsinn im Zaum halten. Hoffentlich lange genug, daß ich
endlich die Geschichte fertig schreiben kann. Es ist eine Qual. Jedes Wort zieht sich, ich muß sie mir
einzeln langsam vorsagen, um die Konzentration nicht zu verlieren, um nicht von hinten in meinem
Gehirn übermannt zu werden, um nicht verloren zu gehen im Sturm meiner geistigen Zerstückelung...
Werner ist bald darauf zurück nach Göttingen gefahren, um an seiner Quantentheorie
weiterzuarbeiten. Ich habe ihn nur einmal noch gesehen, er hat mich besucht, hier, aber ich war geistig
umnachtet gewesen. Seine Theorie jedoch hat mich nicht mehr losgelassen. Wenn ich nicht um Elsa
trauerte, vergeblich auf einen Brief von ihr wartete, wenn ich nicht vor meiner Madonna saß und wie
verzweifelt über sie schrieb, dann dachte ich darüber nach. Und über die Wirklichkeit im Allgemeinen.
Und dann hat mich Lars mitgenommen zu einer Seance, wie er es genannt hatte. Es würde mich
sicherlich ablenken, hatte er gesagt. Von wegen.
Alle möglichen Künstlerfreunde von ihm und Lebemänner, die letzten der alten Gentlemen, hatten
sich versammelt, an einem Clubabend, eine geschlossene Gesellschaft. Lars war geladen worden, und
ich hatte ihn begleiten können.
In einem sehr edlen Vorzimmer eines Hauses im alten Zentrum von Kopenhagen empfing uns der
Gastgeber, ein reicher alter Adeliger, Jan von Deentebrok. Er stellte uns und die restlichen
Versammelten vor, und wir durften an einer riesigen Tafel mit wertvollen Gedecken Platz nehmen.
Noch nie war mir ähnliches widerfahren, ich hatte etwas Platzangst in meinem geliehenen Smoking und
wußte nicht recht, was sprechen und wie mich benehmen.
Das Essen war fabelhaft, obwohl ich keine der Speisen kannte, und ich hätte sie sicher mehr
genießen können, wären sie im „Behringer“ serviert worden. Aber ich war hier.
Nach einem Glas Weinbrand wurden wir von Deentebrok in einen geräumigen Rauchsalon gebeten,
wo wir Scotch und Zigarren serviert bekamen. Es war gemütlich, doch etwas im Raum wirkte ein wenig
beklemmend. Deentebrok wies auf Louis Levin, einen Mediziner, der anscheinend an einem Buch über
narkotische Kräuter und Drogen arbeitete. Wahrscheinlich war das die Ursache dieses Gefühles.
Levin sprach leise, im Rauch vernebelt, Nebel ähnlich den meinen, die ich sehe, jedesmal, bevor ich
mich von mir selbst verabschieden muß, oh Gott, wie ich sie fürchte...
Er erzählte von einer Reise, die er in Persien unternommen habe, und wo er an der Universität von
Teheran einen Mann kennengelernt habe, der übernatürliche Kräfte besitze. Und dieser Mann soll
heute hier sein.
Jemand erhob sich. Ein unscheinbarer Kerl, derjenige, der bisher geschwiegen hatte. Klein und
dunkel, mit einem schwarzen Hemd zum Smoking. Er verbeugte sich. Bevor er zu sprechen begann,
brachten die Diener türkische Pfeifen zum Rauchen. Damals sah ich erstmals meine, ja meine ganz
eigenen Nebel, damals hatte sie begonnen, meine Reise zu den Antipoden der Wahrnehmung, auf der
ich mich nun verirrt habe...
„Meine Herren, es ist mir die allerhöchste Ehre, vor ihnen meine Fähigkeiten zu präsentieren.“ Er
sprach einen sehr sonderbaren Akzent. „Aber zuerst muß ich ihnen erzählen, wie es dazu gekommen
ist: ich war vor vielen Jahren unterwegs in Anatolien, um meine Frau wiederzufinden, die ich auf einem
anderen Abenteuer verloren hatte.“
Die Geschichte zog sich in die Länge, aber er erzählte spannend und bunt, und unsere Imagination
war gefärbt vom grünlichen Rauch aus den türkischen Pfeifen. Plötzlich mußte ich aufhorchen, ich
hatte den Zusammenhang der Erzählung verloren, und jetzt sprach er von etwas völlig anderem:
„...ich konnte nicht mehr aus, konnte nicht flüchten oder fortgehen, meine Zunge war wie gelähmt
und ich war wie verloren zwischen ihrem Glanz und ihrer Herrlichkeit, wie sie um mich herum standen,
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die Götter des Pantheon. und der größte und älteste von ihnen, mit zuckenden blauen Blitzen in der
Faust, erhob seine Stimme, die gleich einem Donner, obwohl er ganz leise sprach, den ganzen
Weltraum erfüllte: ´Du bist also eingedrungen in den Olymp, wir können dich so nicht gehen lassen.
Du wirst etwas bekommen, wodurch dir niemand Glauben schenken wird, wenn du von uns erzählst.
Und wem du es beweisen willst, dem werden die Augen geöffnet werden. Versuche das niemals, es ist
nicht zu ertragen! Mein Sohn wird dich führen.´
Und da verschwanden sie alle in Rauch und Getöse, bloß der Gott zur rechten Hand des Mächtigen
schritt in klarem Licht auf mich zu. Es war Hermes, der Bote. Er nahm mich bei der Hand, und die
Flügel auf seinem Helm begannen zu schlagen. Plötzlich verschwamm auch die restliche Umgebung
und ich konnte nur Blitze und Farben und verwaschene Bilder um uns sehen, als wir durch Raum und
Zeit rasten, bis wir ankamen, an einem fernen Ort, wie mir scheint. Alles um uns war schwarz, es gab
nicht einmal Sterne. Aber der ganze Raum, soweit ich sehen konnte, war erfüllt mit einem gigantischen
Mechanismus, aus Materialien, die sich kein Mensch vorstellen kann, überall blitzten Lichter und Bilder
auf und alles bewegte sich ständig. Aber da waren keine Hebel oder Zahnräder, alles schwebte, alles
glitt in diesem Raum, der nicht wie ein Raum war, in sich selbst.“
Er beschrieb ganz ausführlich alle möglichen Dinge, die ich mir wirklich nicht vorstellen konnte.
Und sprach weiter: „Hermes beschrieb mit seiner Rechten einen weiten Bogen durch den Raum und
begann zu sprechen: ´Das sind die Räder Der Welt. Wir erzeugen sie mit unserem Willen. Wo wir jetzt
sind, wird niemals ein Mensch hinkommen, wenn wir das nicht wollen. Wir sind nicht innerhalb eurer
Welt. Eure Welt ist leer und wüst, und bloß dieses Uhrwerk bringt sie in eine Ordnung. Ihr wollt etwas
sehen, und die Räder Der Welt zeigen es euch.´“
Irre, was der da von sich gab. Aber bitte. Was Werner darüber wohl denken würde, seine eigene
Theorie dermaßen mystisch verfärbt... der Mann sprach weiter:
„Dann nahm er einen kleinen Kristall, wie mir scheint, aus einem der Apparate und steckte ihn mit
einer abrupten Bewegung seiner Hand in meine Brust hinein. Es tat gar nicht weh. ´Du hast jetzt
Zugriff auf die Räder. Wenn du etwas wünschst, wird es in Erfüllung gehen. Doch hüte dich vor deinen
Wünschen!´ - damit nahm er wieder meine Hand und ich erinnere mich an nichts weiter, als daß ich in
der Wüste erwachte, und am Horizont eine ferne Andeutung einer Siedlung erkannte. Ich schleppte
mich dorthin, es war tatsächlich das Dorf, in dem wie versprochen, meine Frau auf mich gewartet
hatte.“
Er holte langsam und tief Atem, mit gesenktem Kopf. Aber er hob den Blick wieder und sagte:
„Und jetzt brauche ich einen Freiwilligen unter ihnen. Er sollte zu allem bereit und sehr stark sein.“
Jetzt, wo ich in diesem Haus sitze, mich vor meinem Wissen ängstige und jedes Wort einzeln aus
mir herausquäle, in dem Versuch nicht ohnmächtig zu werden, jetzt glaube ich, daß dieser Mann,
dessen Namen uns nie verraten wurde, der Teufel ist. Er mußte doch gewußt haben, was er mit uns
gemacht hatte. Und er hatte selbst von der Warnung gesprochen, die ihm sowohl sein Zeus als auch
sein Hermes gegeben hatten.
Aber er hatte es trotzdem getan. Er hatte gemeint, er wisse, daß er gegen den Willen der Götter
handelte, und bat uns deshalb, ihm zu gehorchen, was unsere Sicherheit bedingen sollte:
„Ich habe das schon einige Male gemacht, und es kann nichts passieren, wenn sie beachten, daß sie
bei dem, was sie erleben werden – was auch immer das sein wird – sich nicht bewegen dürfen, auf
keinen Fall ein Wort sprechen. Seien sie sich sicher, das zu bewerkstelligen. Welche Versuchung auch
immer sich vor ihnen auftut, sie dürfen nur beobachten, und sonst nichts. Merken sie sich das bei
Ihrem Leben!“
Und er forderte diejenigen, die sich unsicher waren, auf, den Raum zu verlassen. Mehrere der
Herren erhoben sich, darunter auch ich. Aber während die anderen, leise untereinender sprechend,
hinausgingen, schritt ich Wahnsinniger auf den Magier zu, um mich als Freiwilliger zu Diensten zu
stellen.
Er fragte mich, ob ich mir sicher sei, und ich, der ich nichts zu verlieren hatte – mein Leben war mit
Elsa nach England gereist – bejahte. Er wandte sich wieder an alle:
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„Wir werden jetzt an einen Ort reisen, den der junge Mann für uns ausdenkt. Seien sie still und
setzten sie sich bequem. Denken sie an meine Anweisungen.“
Er nahm meine Hand und bat mich, an einen bestimmten Ort zu denken, den ich gut kenne. Meine
Gedanken glitten zu Elsa, aber ich kannte den Ort nicht, und es war viel zu intim, um den anderen
offenbart zu werden. Vor mir hatte ich plötzlich ein Bild, und es nahm die Form eines ganzen Raumes
ein, überlagerte den Rauchsalon in grünlichem Nebel – meinem Nebel! – und gewann langsam an
Kontur.
Eine große Halle. Viele Menschen. Sie alle waren seltsam gekleidet, und doch kannte ich sie. Die
Schule von Athen! Wir befanden uns in diesem monumentalen, prächtigen Gemälde des Raffaelo Santi!
Dort, in der Mitte, unter dem Gewölbebogen, dort standen Sokrates und der ehrwürdige Leonardo da
Vinci und disputierten vor einigen Zuhörern! Ja, und dort saß Michelangelo auf seinen Marmorblock
gestützt und grübelte über seinen Entwürfen! Und zwischen all den bekannten Gesichtern der
Dargestellten, die sich bewegten, die lebten und miteinander sprachen, standen und saßen meine
Mitreisenden, starr vor Staunen und eingedenk der Warnung und schienen von den lebenden Gemalten
nicht bemerkt zu werden.
Mir wurde ganz heiß, alles kribbelte und mit meiner linken Hand – die rechte lag in der des Magiers,
der hinter mir stand – umfaßte ich fester die Zeichnung von Elsa, die ich immer bei mir trug.
Es mag die unmerkliche Bewegung gewesen sein, oder aber meine Position in der Halle, ja, da,
direkt vor mir stand Raffael selbst und blickte mir in die Augen, er hatte mich gesehen.
„Was habt ihr da in der Hand?“, fragte er mich. Und ich, alle Warnungen hatte ich vergessen, so
fasziniert war ich, reichte ihm die Zeichnung, obwohl ich mich schämte, weil, was war meine
stümperhafte Skizze gegen die göttliche Meisterschaft meines Gegenübers. Er nahm das Blatt,
betrachtete es aufmerksam und nickte langsam.
„Du Narr!“, vernahm ich die Stimme des Magiers an meinem Ohr, Raffael schaute auf, kurz trafen
sich unsere Blicke, bevor alles schwarz wurde.
Damit war mein Schicksal beschlossen. Von da an wußte ich, daß Werner recht hat. Der Magier hat
es mir bewiesen, die Welt ist eigentlich nicht da, sie wird gemacht, von uns selbst, von unseren
Wünschen. Ob seine Geschichte stimmt, das weiß ich nicht, ob es die Götter des Olymp sind, die mit
ihrem Apparat die Welt für uns aus unseren Wünschen bauen, es ist mir auch egal.
Da ist sie wieder, die Madonna. Ich muß die Blätter verstecken, bevor, bevor, ja, ich werde
schwächer, das andere, das andere wird stärker, ich werde wieder schreien, sie werden mich wieder
holen...
...
Später ist es, ich weiß nicht, welcher Tag oder welche Stunde. Sie haben meinen Körper wieder
gemartert, mir meine Wahnvorstellungen wieder ausgetrieben, mit ihren Quälereien, dieser Axel mit
seinen Abreibungen. Ich schreibe weiter, selten war ich schon so weit:
Damals bin ich wieder zu mir gekommen, als sich der Magier gerade verbeugte und den Applaus der
anderen entgegennahm, die ganz begeistert waren. Er schaute mich an und führte mich in ein
Nebenzimmer. Dort setzte er mich auf einen Stuhl und sprach leise in mein Ohr:
„Ich habe dich gewarnt. Nun bist du einer von uns, und niemand wird dir Glauben schenken. Damit
mußt du zurechtkommen. Wir werden uns nie mehr sehen, nicht in dieser Welt. Sei stark. Ich wünsche
dir alles Gute! Und jetzt geh!“
Ich ging. Ich ging durch den Rauchsalon, gesenkten Kopfes, wirr und aufgelöst, hörte Fetzen der
Gespräche, die Herrschaften riefen nach mir, während sie das Opium von Deentebrok lobten, das so
unglaublich stark sei. Draußen im hellen Dinersaal standen noch vier oder fünf Herren mit Gläsern in
der Hand, die mich fragten, wie es denn gewesen sei, ganz gespannt. Ich ging grußlos an ihnen vorüber,
auch Lars war da, aber ich ging nach Hause.
Ich konnte nicht vieles in meinen Gedanken fassen, auf dem Nachhauseweg. Es war spät, kalt und
feucht, aber dadurch fühlte ich mich ein wenig wohler und frischer. Es war also Opium gewesen.
Natürlich – ich hatte so etwas nie gemacht, es war ein Traum gewesen, ein Rausch... das leuchtete mir
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ein. Was mich bloß wunderte, war, daß das Bildnis meines Schatzes nicht mehr in meiner Sakkotasche
steckte. Wahrscheinlich hatte ich es in meiner Bewußtlosigkeit verloren.
Zu Hause angekommen, in meinem Zimmer, bei meiner Kerze, setzte ich mich an meinen
Arbeitstisch und atmete tief durch. Mein Blick fiel auf eine Skizze der Madonna, über deren Gesicht ich
das meiner Elsa gezeichnet hatte. Es sah eigentlich viel besser aus, so, anstatt des schmäleren, obgleich
faszinierenden Gesichtes der Margherita Luti, mit ihrem kohlschwarzen Haar und den blauen Augen.
Mich schauderte.
Es konnte nicht so sein. Die Skizze der Madonna mit Elsas Gesicht hatte ich doch gerade verloren!
Ich suchte nach den Photographien des Gemäldes, Schreckliches ahnend. Und ich fand sie. Und es
war geschehen. Auf den Photos war das Gesicht Elsas.
Wahnsinn!
Was habe ich getan!
Ich sprang auf, stürmte zum Bücherregal, riß einen beliebigen Band über Raffael heraus, blätterte
wie wahnsinnig, was heißt wie wahnsinnig, wahnsinnig war ich, ich fand die Stelle mit der
Bildbeschreibung, und da stand ganz eindeutig, daß die Madonna braunes Haar trägt, daß sie braune
Augen hat und ein wohlgeformtes abgerundetes Gesicht.
Ich fiel in Ohnmacht.
Und erwachte in diesem Haus, erwachend erblickte ich Axels ausdrucksloses Gesicht, als er mich
mit dem Drahthandschuh massierte, ich schrie auf, wurde geschlagen und lange dauerte es, bis meine
lichten Phasen länger wurden und ich verstand, wo ich bin. Und hier werde ich sein, solange, bis ich
durch die Behandlungen die Madonna vergessen habe, solange, bis ich Elsa vergessen habe und Werner
und Lars und den Magier, solange, bis ich mit „Heisenberg“ einen berühmten Physiker assoziiere, den
ich natürlich nicht kenne.
Das ist meine Geschichte.
Das ist die Geschichte der Geschichte, die nicht da ist, die aus unseren Vorstellungen konstruiert
wird, und die sich ändert, wenn sich Vorstellungen und Wünsche ändern. Und dann ist es plötzlich
immer schon so gewesen. Ich habe mir gewünscht, verheerend!, daß das Gesicht meiner Elsa von
Raffael selbst auf die Madonna gesetzt werde – und plötzlich hat die Madonna immer schon so
ausgesehen.
So lange werde ich hier bleiben müssen, solange ich nicht vergessen habe, wie die Madonna
ausgesehen hat, wie Margherita Luti ausgesehen hat, bis ich glaube, daß Elsa Raffaels Geliebte gewesen
ist. Eher werde ich sterben.
[Dieses Manuskript habe ich neben zig anderen, unvollständigen, der selben Geschichte gefunden,
als ich das Archiv des alten Nervenspitales von Kopenhagen sichtete, um meine „Geschichte der
dänischen Heilkunst“ zu vervollständigen. Nach Auskunft der Akten ist der Autor im November 1937
38-jährig verstorben, kurz nachdem er als geheilt entlassen worden war. Er hatte in der Bibliothek des
physikalischen Institutes der Universität Kopenhagen einen Herzanfall erlitten. – Dr. Jonas Hanussen,
Kopenhagen, 25-03-1993]
Wien, 21. und 22. Oktober 2000